Dissertationsprojekt von Niklas Walder
In jüngsten sozialgeschichtlichen Studien über das frühe Christentum in städtischem Umfeld fungierte oft eine "institutionelle" Perspektive als Leitparadigma. So stiess beispielsweise der Vergleich von griechisch-römischen Vereinigungen mit den «Christusgruppen» auf reges Interesse (Kloppenborg, 2019). Dasselbe gilt auch für die Forschung über die christliche Bewegung in der römischen Kolonie Philippi, wo ein solcher Vergleich maßgeblich von Richard Ascough vorangetrieben wurde (Ascough, 2003).
Wie bei allen historischen Studien stellt der Mangel an Quellen bei der Untersuchung dieses Themas eine bedeutende Herausforderung dar. Im Fall von Philippi muss so überlegt werden, wie der Quellenwert der lokalen Vereinsinschriften (wie die der cultores Silvani aus dem 2. und 3. Jahrhundert, I. Philippi2 163-166) hinsichtlich ihres Potenzials, Licht auf die Organisation der Christusversammlungen im 1. Jahrhundert zu werfen, bewertet werden sollte (Eckhardt, 2018).
Das von Niklas Walder durchgeführte Projekt bewertet den aktuellen Forschungsstand und die relevanten lokalen Belege, nimmt jedoch eine ausdrücklich nicht-institutionelle Perspektive auf das frühe Christentum in Philippi ein und verwendet Apostelgeschichte 16 als Ausgangspunkt. Es zielt darauf ab, den Fokus auf die in Apostelgeschichte 16 literarisch und erzählerisch bezeugten Personen zu lenken und sie vor dem Hintergrund einer sozialgeschichtlichen Rekonstruktion des antiken Philippis aus einer "subjektorientierten" Perspektive zu untersuchen (Rüggemeier, 2020).
Wie in Erzählungen üblich, bietet Apostelgeschichte keine akribische Aufzeichnung historischer Ereignisse, sondern nimmt zur Wahrung der erzählerischen Kohärenz bewusste Auslassungen und Verfeinerungen vor, was in Lücken im Text und unerwähnten Details (wie das Schicksal des Paulus in Rom) resultiert. Dennoch waren kundige Rezipienten, die mit dem historischen Kontext des Autors vertraut und in der antiken Umgebung der Apostelgeschichte beheimatet waren, in der Lage, ihr kulturelles und historisches Wissen zu nutzen, um den Text effektiv zu verstehen, indem sie die vom Autor hinterlassenen Lücken füllten.
In Apostelgeschichte 16 werden die narrativen Handlungsstränge nun vor einem spezifischen Hintergrund erzählt: Die Figuren befinden sich auf der Bühne von Philippi, einer römischen Kolonie im 1. Jahrhundert in der Provinz Makedonien. Die antiken Empfänger interpretierten ihrerseits diese Erzählung und ihre Figuren durch die Brille ihres Wissens über die Verhältnisse in Philippi oder mit analogen Informationen über andere römische Kolonien.
Obwohl wir weder direkten Zugang zu den impliziten Hintergründen in der Vorstellung des Autors noch der Empfänger haben und unsere sozio-historisch rekonstruierte Philippi nie genau mit dem von ihnen imaginierten Philippi übereinstimmt, bleibt eine umfassende lokalgeschichtliche Untersuchung von Philippi in Verbindung mit der Apostelgeschichte nach wie vor der zuverlässigste Ansatz, um Apostelgeschichte 16 und ihre Figuren im spezifischen historischen und geografischen Kontext von Philippi zu verstehen.
Gemäss aktuellen wissenschaftlichen Trends verfolgt dieses Projekt einen vielschichtigen methodischen Ansatz und legt besonderes Augenmerk auf die zahlreichen Inschriften aus Philippi. Ziel ist es, Figuren wie Lydia, den Purpurhändler, das pythonesische Sklavenmädchen und den Gefängniswärter im soziohistorischen Kontext von Philippi neu zu bewerten und zu verstehen. Es soll analysiert werden, wie sich unser zeitgenössisches Verständnis der erzählerischen Sequenzen in Philippi entwickelt, wenn wir sie aus dieser Perspektive betrachten.
Dieses Dissertationsprojekt ist Teil des SNF-Projekts "ECCLESIAE: Early Christian Centers – Local Expressions, Social Identities & Actor Engagement," welches von Prof. Dr. Benjamin Schliesser geleitet wird.